Ende August 2002 findet im deutschen Staedtchen Eisenach das vierzigjaehrge Jubilaeum des American Folk Blues Festivals statt. Das AFBF begann 1962 als weitsichtiges Unterfangen von Horst Lippmann und Fritz Rau: ueber die Jahre trug diese wohl einzigartige Konzert Serie dazu bei, Europa mit dem Blues vertraut zu machen. Dies war in den sechziger Jahren von grosser Wichtigkeit, da viele der europaeischen Musiker (ich denke da vor allem an die englischen Rockbarden) kreativ auf die amerikanischen Vorbilder zu reagieren vermochten. Ich schrieb den folgenden Beitrag "VORHANG AUF!" als persoenliche Erinnerung an meine formative Zeit.


"VORHANG AUF!"
Walter Liniger, 2002

Die sechziger Jahre. Waren sie wirklich so tumultoes, oder stelle ich mir ihre Energie so vor weil ich dort meine Jugendjahre weiss? Auf der Aussenseite der Bau der Berliner Mauer, die Kubakrise, die Ermordung von Kennedy King Kennedy Malcolm X, Jugendunruhen, Vietnam, der russische Einmarsch in der damaligen Tschechoslowakei, Gekreisch um die Beatles, Demonstrationen Wasserwerfer Pflastersteine. Und auf der Innenseite meine Hoffnung und Neugierde auf wahrlich Neues, unerklaerlicher Zorn auf die Zeit, ohnmaechtige Lust auf Maedchen, und Traeume von der amerikanischen Weite.

Das schleifende Kassettengeraet in meinem alten Volvo drehte sich unregelmaessig, und zu langsam. Sonny Boy's Harmonika keuchte aus den Lautsprechern und Muddy Waters hatte nun eine Bassstimme. Doch das kuemmerte mich wenig, zu Hause hatte ich ja tausende von Plattenrillen die sich mit normaler Drehzahl abspielen liessen. Ich war mit ein paar Freunden unterwegs nach Zuerich, und das wollte was heissen. Als Stadtberner fuhr man nicht ohne triftigen Grund nach Zuerich, so hatte uns die lokale Schweizer Geschichte gelehrt: die Zuercher sprachen zu schnell und zu viel, was von uns langsamen Bernern als Oberflaechlichkeit gewertet wurde, und dazu war Zuerich im Vergleich zu Bern eine Grossstadt, in der man sich leicht verfahren konnte; als Berner wollte man sich keine Bloesse geben und einen Zuercher nach dem Weg fragen muessen.

Das Zuercher Volkshaus verfuegte ueber einen bodenstaendigen Saal: vom U-foermigen Balkon aus liess sich der grosse Parkettboden leicht ueberblicken (da es damals ueblich war bei Rock Konzerten die Stuehle zu zertruemmern, hatte man diese vorsichtshalber entfernt). Wir hatten freien Blick auf die Buehne. Ein schwerer Vorhang verbarg die Instrumente und Verstaerker. Einstimmig vermuteten wir das Schlagzeug in der Buehnenmitte, flankiert von Bass und Klavier. Ueber die Positionen der Harmonika Spieler und Gitarristen wurden wir uns nie einig. Vielleicht wuerde es gleich sein wie im Vorjahr, doch keiner erinnerte sich mehr. Wir waren frueh dort. So konnten wir unsere Plaetze auswaehlen, nochmals nach draussen gehen, im Auto kiffen und dazu Rotwein trinken. Der Saal fuellte sich mit verhaltenen Stimmen. Obwohl einem die andern fremd blieben, fuehlte man sich als Teil eines groesseren Ganzen. Dass man an diesem Tag im Volkshaus war sagte genug aus, wir hatten alle den gleichen Geheimkode. Man fuehlte die Besonderheit des Abends. Endlich: die Lichter im Saal erloschen, der Vorhang bewegte sich - das American Folk Blues Festival!

Vom zweiten Takt an rollte die Musik ueber mich hinweg und sog mich hinaus in eine Welt der bereits erlebten Fantasie. Die Interpreten waren einmal mehr Beweis dafuer, dass meine kostbare Plattensammlung existierte. Anders ausgedrueckt: diese Musik gab es tatsaechlich so, wie ich sie bereits unzaehlige Male in meinen Kopfhoerern gehoert hatte. Und, anders als bei Rock Konzerten, wo die Musiker in ihren zerschlissenen Outfits wild auf der Buehne rumfetzten und einen mit lautstarkem Schmerz zum Ausbruch aufgeilten, ueberzeugten uns diese Bluesbarden durch ihre einzigartige Praesenz. Wenn ich die bleibenden Eindruecke der besuchten American Folk Blues Festivals auf einen Nenner zu bringen versuche, so nennt mir mein Herz drei kostbare Einsichten, denen ich spaeter waehrend meines zwanzigjaehrigen Aufenthalts in den amerikanischen Suedstaaten immer wieder begegnen sollte: Praesenz, Dynamik, und Raetsel.

Ich war beeindruckt vom tadellosen Buehnenauftritt der meisten Musiker. Anstelle unserer grellfarbenen Hemden und angerissenen Hosen trugen sie dunkle Anzuege, manchmal gestreift, spiegelblank polierte Schuhe, Kravatten, und meist auch klassische Huete. Die Saengerinnen trugen ihrerseits das besonders Beste. Durch voreingenommene Linernotes auf vielen Plattenumschlaegen war ich der Annahme erlegen, dass ein Bluesmusiker meistens im Dreck seinen Rausch ausschlief. So hatte ich mir ja auch alle Muehe gegeben mich an diese vermeintlichen Schicksale ranzusaufen. Und nun wurde ich mit Gruppen von Individualisten konfrontiert, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, rassistisch gepraegten Fremdansichten entgegenzutreten.

Zum zweiten gelang es diesen Musik Magiern auch uns mit leisen Toenen in Schwingung zu halten. Sie demonstrierten ein Zusammenspiel, bei dem nur einer Solo spielte waehrend die Gruppe den "groove" beibehielt. Die geballte Ladung Kraft kam aus einem gegenseitigen kulturellen und sozialen Verstaendnis was die Aufgabe der Musik sei: ein innerer Aufbau, und nicht der individuelle Niederriss, dem sich damals viele Rock Musiker und ihre Fans verschrieben hatten. Anstelle des chaotischen Individualismus den ich hinter dem Bues vermutete, begegneten mir Disziplin und Ausgearbeitetes.

Und fuer mich vielleicht das Wesentlichste: trotz all meiner Anstrengung sichtbare und hoerbare Einzelheiten aufzusaugen und fuer meine Ewigkeit zu behalten, blieben die Musiker auf der andern Seite eines unsichtbaren Vorhangs. Fuer mich waren die Rhythmen jung und neu, und dabei waren die Spieler bereits "alt." Ich fuehlte, dass dieser Musik etwas Zeitloses zu Grunde lag; aber irgendwie ahnte ich wohl auch, dass ich kaum hinter das Geheimnis kommen wuerde. Es war ein erster Anstoss mit dem Unvermoegen eine kulturelle Andersstimme in ihrer Vollstaendigkeit zu uebersetzen.

Und dann versank das American Folk Blues Festival wieder im dunklen und leeren Saal. Doch schwangen Gehoertes, Gesehenes, und Erfuehltes in mir nach. Einem Puzzle aehnlich sollten viele Einzelstuecke erst Jahre spaeter endlich ihren Platz finden. Jedenfalls trage ich Wunsch und Willen tieferen Einblick in diese seltsam vertraute Fremdkultur zu gewinnen seit damals in mir.

Zeit verging. Ein wesentlicher Bestandteil des Blues scheint sich nicht nur in der Suche nach einem "Zuhause" auszudruecken, sondern auch in der Einsicht, dass dies nur temporaer zu erreichen sei, wenn ueberhaupt. 1982 verliess ich die exakt funktionierende Kleinheit "Schweiz," und uebergab mich der riesigen Widerspruechlichkeit Amerikas. Seit zwanzig Jahren lebe ich nun im amerikanischen Sueden: bis 1993 arbeitete ich im Blues Archive der University of Mississippi, und seit 1993 unterrichte ich einen Kurs zum Thema "Blues" an der University of South Carolina. Mit gemischten Gefuehlen denke ich dabei an die langjaehrige Lernzeit, und schlussendliche Zusammenarbeit mit dem Delta Bluesmann James Son Thomas zurueck. Wie wenig ich mir ueberlegt hatte, damals, als ich ihn fragte, ob er mir den Blues lehren koenne. Ich dachte an Gitarren Akkorde und Harmonika Riffs, er dachte an sein Leben in Mississippi. Ueberleben in Amerika.

James Son Thomas war auch einer der Musiker am American Folk Blues Festival. Viel wusste er davon nicht zu berichten, ausser dass die Gruppe "gut funktioniert" habe. Dazu gehoerten saemtliche kleinen Intrigen, Scherze, und Anekdoten die sich zwangslaeufig ergeben, wenn man sich als relativ geschlossene Gruppe in einer andern Kultur zu praesentieren hat. Thomas war ein aeusserst schwer zugaenglicher Mensch. Er trug Mississippi in sich wohin er auch ging. Als ich ihm endlich erklaeren konnte, dass die Schweiz suedlich von Deutschland liege, erwaehnte er Kontrollen und Polizei. Erst als ich vor kurzem seinen alten Pass in einer meiner Erinnerungskisten fand, wurde mir die damalige Aussage klar. Da sind gleich fuenf Stempel drin, die sich alle auf den gleichen Tag beziehen: Aufenthaltsberechtigung fuer die Deutsche Demokratische Republik, 08. Nov. 1982. Und Visum Nr. 1/81/766 ueber die zugelassenen Grenzuebergangsstellen Berlin. Was Son Thomas wohl fuer Eindruecke mit sich nach Hause getragen hat? Mir hat er sie nicht alle erzaehlen koennen, denn er wollte mich nicht beleidigen. Die Schweiz, Deutschland, Europa gehoerte alles irgendwie zusammen, und es war nicht Mississippi.

Was ihn jedoch erstaunte war der Respekt, den das europaeische Publikum dem Blues und seinen Vertretern entgegenbrachte. Ueberall wurde er umsorgt, fotografiert, gebeten, und gepflegt. Ja, die Strapazen der Reise setzten seiner Gesundheit zu, und auch das Brot konnte sein beinahe zahnloser Mund nicht kauen; ihm fehlten die heimischen "biscuits." Die Huehnchen wuerden nicht gleich zubereitet wie beim "Colonel" (Kentucky Fried Chicken), doch gebacken waren sie ihm ebenfalls recht. Auch begriff er nicht, warum die Autos nicht von den Hoehen und Bergen runtergerutscht seien. Am wohlsten war ihm in der schier endlosen Flaeche des Mississippi Delta. Wohl war ihm aber auch, wenn er sich endlich hinlegen konnte.

Damals. Wir spielten in einem kleinen Juke Joint in Columbus, Mississippi. Wie ueblich reiste Son Thomas mit einem riesigen Koffer rum, der zwar fast leer war, doch Wichtiges enthielt: ein paar lose Rasierklingen, eine kleine Flasche Dr. Tichnor Mundwasser, zwei anheftbare Kravatten, mindestens ein frisch gebuegelter Anzug, ein Paar neue Schuhe und Socken. Dafuer fehlten ihm wie ueblich Gitarren Saiten, doch das war ja meine Aufgabe. An diesem Abend im Motel holte er aus der gaehnenden Tiefe des Koffers zwei neue, gelbe Baumwollhemden. Ohne Kommentar legte er eines auf mein Bett. Von da weg trug ich immer ein frischgewaschenes Hemd, manchmal sogar eine Kravatte, wenn ich mit Son auftrat. Da er nicht ein Mann von vielen Worten war, ging es eine Weile bis ich die Lektion begriff: Kleider sind wesentlich gerade wenn man Blues spielt, da man mit jedem Auftritt die relativ niedere Klasseneinstufung des Blues Spielers zu widerlegen hat. Ich hatte das Gefuehl, dass er mir genug vetraute um mir diese Belehrung zu erteilen. Der Leser sei sich bitte bewusst, dass in Mississippi ein Schwarzer normalerweise keinen Weissen in seinem Auftreten belehrt. Die Geschichte beweist das zur Genuege.

Unsere Musik war selten laut. Er gab mir Anweisungen wie sein Gitarrenton einzustellen sei, und der war immer warm mit genug Tiefen drin. Wenn man selber Musik spielt merkt man bald einmal, dass das Publikum bei zu grosser Lautstaerke kaum mithoert. Ton und Lautstaerke gehoeren zusammen, sie bestimmen zu grossen Teilen auch den Tiefgang der Musik. James Son Thomas war ein Meister des langsamen Blues, und den spielten wir meistens auch relativ leise. Seine knochigen Finger strichen sachte ueber die Saiten. So saehte er seine Noten im Raum. Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit wuchsen in den stillen Zwischenraeumen. Trotz der harten lyrischen Wahrheiten blieben die einzelnen Toene rund, sogar weich. Seine Stimme schwang sich zum autoritaeren Falsetto hoch. Sie forderte heraus. In solchen Momenten wurde mir klar, dass Thomas einer Kultur angehoerte, die gelernt hat grosse Energien aus einer eigenartig fluesternden Stille zu schoepfen. Mit Stolz trug ich zwar mein Hemd, trotzdem stand ich neben einem Unbekannten.

Waehrend unserer beinahe zehnjaehrigen Bekanntschaft verbrachten wir unzaehlige Stunden gemeinsam: im Auto, im Flugzeug, in Motel Zimmern und auf Buehnen jeglicher Art, bei ihm zu Hause in Leland, oder bei mir in Oxford. Son Thomas schlief oft, muede von seinen allgegenwaertigen Sorgen um seine vielen Kinder, erschoepft von seinem rauchig-rasselnden Ringen um Sauerstoff (er litt an einer Staublunge), umwoben von Beruhigungsmittel gegen seine epileptischen Anfaelle. Alkohol habe ich ihn nie trinken sehen, dafuer rauchte er hustend seine Pall Mall Zigaretten. Und unzaehlige Male erzaehlte er die gleichen Geschichten, sie gehoerten zu seinem Repertoire. Sie boten ihm Schutz und Halt. Vielfach tauchte darin der Begriff von "cotton" auf, wie zum Beispiel "we had to make that cotton," oder "chopping cotton." Es ist mir bis heute nicht gelungen diesen Begriff zu meiner Zufriedenheit zu uebersetzen, zu viel kulturell und sozial Unvertrautes schwingt mit. Das Wort "Baumwolle" genuegt nicht. Thomas hatte nie ausserhalb einer kleinen Mississippi Gemeinde gewohnt, und "cotton" klebte an jedem seiner Blues. Der Mann blieb mir, dem Suchenden, ein Raetsel bis am Schluss: auf der einen Seite gefaehrlich-sanft wie der schwarze Sumpf in den Zypressen Hainen, und auf der andern Seite zaeh-klebrig wie dunkle Melasse. Unberechenbar wie der Blues, der uns immer wieder auf uns selber zurueckwirft. Es gab einfach zu vieles das ich nicht verstand.

So betrachtet stehe ich eigentlich erst am Anfang mit meinem eigenen Blues ein konstruktives Verhaeltnis aufzubauen. Son Thomas lehrte mich, dass das Leben mit dem Blues eigentlich kaum was mit Musik zu tun hat. Dass es jedoch, wenn man dieser Lebenshaltung durch Musik oder durch eine andere kreative Spiegelung Ausdruck geben will, die eigene Geschichte zu sein habe. Es ist schlussendlich die einzige Wahrheit die wir kennen.

Meine Hoffnung und Neugierde auf wahrlich Neues bleibt. Der Zorn auf die Zeit hat sich erklaert. Meine erotischen Gelueste halten sich im altersbedingten Rahmen. Und wie leicht die amerikanische Weite doch zur Vereinsamung fuehren kann. Und eben gerade deswegen bin ich froh, damals trotz meiner geschichtlichen Vorbelastung nach Zuerich ans Amerikanische Folk Blues Festival gefahren zu sein.

Im Maerz 2002
University of South Carolina, Columbia
Walter Liniger


 

BLOWIN' ON THE MOUNTAIN TOP

Wale Liniger
Gedanken zum Mundharmonika Workshop an der Alpinen Kinderklinik Davos,
27. März - 7. April, 2002


Ein kalter Wind fegte ueber die verschneiten Berghaenge. Ab und zu glitten wolkige Schatten ueber das mittaegliche Sunrise Drive-In auf der Parsenn oberhalb Davos. Und doch haette die Stimmung an diesem Sonntag (7. April) kaum besser sein koennen: das sonnige Wetter versprach einen wuerdigen Abschluss fuer alle die sich nochmals ihre Skis oder Snowboards anschnallen wollten, der Eishockey Club Davos war am Tag zuvor Schweizermeister geworden, und warm eingekleidete KIWANIS Mitglieder tanzten und sangen zur Musik einer Gruppe Harmonikaspieler aus der Alpinen Kinderklinik Davos. Oder vielleicht stapften sie sich einfach ihre kalten Fuesse warm. Zum Glueck geschah dies im vorgespielten Rhythmus. Genau werden wir das wohl nie erfahren. Was jedoch unbestritten bleibt ist die zeitliche Einmaligkeit des Blues Brunch auf der Parsenn: umrahmt von Sonne und Wille, von Begeisterung und Abschied.

Wie bereits im Sommer 2000 kam es auch in diesem Jahr wiederum zu einem Harmonika Projekt an der Alpinen Kinderklinik in Davos. Im Gegensatz zur frueheren Studie, welche dem Harmonikaspiel viele positive medizinische und psychologische Folgen nachweisen konnte, diente dieser Workshop nicht einer weiteren wissenschaftlichen Beweisfuehrung, sondern der Anwendung dieser Erkenntnisse. Der zehntaegige Workshop kam dank der grosszuegigen Zusammenarbeit zwischen den Hauptsponsoren zustande; der sonntaegliche Blues Brunch auf der Parsenn wurde zum kroenenden/toenenden Abschluss. Die KIWANIS Stiftung Schweiz - Liechtenstein handelte ganz im Sinne des weltweiten KIWANIS' Motto "Young Children Priority One," und sicherte ihre finanzielle Zusage dieses Jahr der Alpinen Kinderklinik in Davos zu. SUNRISE, Anbieter von modernen Kommunikations Systemen, war dafuer besorgt, dass dieses Projekt tatsaechlich auch entstehen konnte und der Oeffentlichkeit zugaenglich wurde. Die Alpine Kinderklinik Davos unterstuetzte den Anlass im Rahmen ihres grossen Angebots von ergaenzenden Therapien. Die Firma Hohner stiftete die noetigen Mundharmonikas.

Die eindrueckliche Bergwelt rund um Davos zeigte sich waehrend des ganzen Workshops in ihrer besonnten Pracht. Die gesundheitsfoerdernde Hoehenlage Davos' ist seit Jahren weltbekannt, die vielen Kliniken und Ferienwohnungen legen dafuer weiteres Zeugnis ab. Berge sollen Kraft geben, ihre wahre Groesse liege versteckt unter den sichtbaren Felsschichten, meinen die einen. Andere wiederum fuehlen sich eher bedraengt und "uebertuermt" von den zeitlosen Riesen. Fuer viele Patienten wurde in der Folge die Mundharmonika zu einem dieser Berge: der eine schoepfte sofort ungeahnte Energie aus dem unbekannten Instrument, die andere brauchte etwas laenger um sich von persoenlichen Vorbehalten dem Thema "Musik" gegenueber zu loesen.

Stimmen. Jeder von uns kennt sie: es gibt welche, denen wir uns gerne bedienen, und es gibt solche, die wir nur mit grosser Ueberwindung zur hoerbaren Oberflaeche aufsteigen lassen. Wir schicken unsere Stimmen auf Reisen, manchmal sehr zielstrebig, ebenso haeufig aber auch aufs Geratewohl. Und in der Stille vernehmen wir noch welche, die auf Gehoer warten. Stumme Stimmen sind haeufig kraeftig und farbig, in vielen Gefuehlsschichten eingewickelt ernaehren sie sich von unseren Traeumen und Fantasien. Dort tun sie sich schwer, selten wollen sie sich zeigen, und doch draengen sie auf ihren ganz eigenen, bisher ungehoerten, Ton.

Toene. Sie schaelten sich aus den inneren Umarmungen und suchten nach dem Ueberleben ausserhalb ihrer vertrauten Umgebung. Traeume, aengstliche und freudige, grosse und kleine, ritten auf den Atemzuegen. Manchmal jubelte eine Stimme ueber etwas Gefundenes, grosszuegig malte sie mit satten Farben Riesiges an den Horizont. Das Ausatmen tat dabei so gut. Dann wiederum vernahm ich keuchendes Suchen nach Entspannung, die Hoffnung auf endliches und tiefes Einatmen trieb solche Toene voran. Stimmen. Sie sprachen vom Alltag, sie suchten sich einen Platz zwischen Therapien und Infusionen, sie erzaehlten von Wertvollem, manchmal versteckten sie sich, oft rasten sie wie gewaltige Boeen durch die Gruppen. Doch immer kamen sie wieder. Neugierig. Begierig.


Atem. Jeder hatte eine eigene Geschichte zu erzaehlen. Und so entstanden viele verschiedene Tonbilder: die Mundharmonikas brachten das Ein- und Ausatmen an die hoerbare Oberflaeche, wo die einzelnen Geschichten Formen annehmen konnten. Jeder Teilnehmer war aufgefordert seinen eigenen Vorstellungen Tonraum zu schaffen. Rhythmus und Tonart waren im Grunde genommen die einzigen Kompromisse die noetig waren, um aus all den vielen Einzelstuecken schlussendlich dann einen "Ton Quilt" zu weben. Und Praesentation dieses "Quilt's" war denn auch das angestrebte Ziel.

Stories. Es gab Geschichten vom Ausbruch. Die Toene waren dann schrill, heftig, und wirkten erst durch die nachfolgende Stille befreiend. Andere Geschichten erzaehlten vom Verliebtsein; diese Toene waren lockend, leicht, doch auch etwas unbestaendig weil kaum nachahmbar. Stimmen zu dieser Geschichte lebten von der Rastlosigkeit und der Suche nach dem Uebertreffen der Gegenwart. Dann wiederum gab es laute und eindeutige Kommentare, gewachsen auf dem Boden des Triumphs und der Freude. Ab und zu draengte sich auch die Suche nach dem Ausdruck des Blues' ans Ohr.

Blues. Es war schlussendlich der Blues der sich durchsetzte. Eine Musik, die sich zu einer bestimmten Lebenshaltung aeussert. Solcher Kommentar muss getragen sein vom Versuch groessere Lebenszyklen zu erkennen, von der Einsicht in persoenliche Wahrheiten, von der Moeglichkeit und Wahrscheinlichkeit dass sich alles aendern kann, vom Arbeiten am Moment. Diese Stimmen arbeiteten vor allem an der Tonqualitaet, und am Anhoeren der Stille. Sie merkten bald, dass das Suchen nach einem eigenen Ton viel Zeit braucht, und dass diese Zeit auch die abgrenzenden Stillephasen einschliessen muss. Eine Zeit des Wachstums, und schlussendlich auch eine Zeit des Findens.

"Quilt of Sounds." Und so kam es am Schluss des Workshops zu zwei Konzerten fuer die erwaehnten Sponsoren, und fuer die interessierte Oeffentlichkeit. Waehrend eines Aperos im Hotel Steigenberger vetrieben spitze Kurztoene imaginaere Kuehe, die vor imaginaeren Zuegen zwischen den imaginaeren Geleisen grasten, mit schwungvollen Bildern hing jeder einzelne der ertraeumten Geschichte von "I Love the Way You Walk" nach, und dass man zu einem Shuffle wie "Kansas City" sogar bei einem Gala Essen etwas tanzen kann, bewiesen die zahlreich geladenen Gaeste. Am naechsten Tag gingen Tanzen und Mitsingen weiter. Waehrend des Blues Brunch' auf der Parsenn kamen alle Stimmen nochmals zum Tragen. Auch hier wurden ihre Geschichten von den Schneehungrigen und den Neugierigen gehoert. Und wer weiss wie weit die Winde all die Traeume und Wuensche trugen.... "The answer, my friend, is blowing in the wind," sang Bob Dylan schon vor vielen Jahren.


Dank. Mein besonderer Dank richtet sich an all die beherzten Musiker der Alpinen Kinderklinik. Ohne ihren Mut und ihre Neugierde etwas Neues zu ertasten, waere ein solches Projekt kaum denkbar gewesen. Das Spielen der Mundharmonika verlangt grosse Selbstdisziplin, und den Mut sich selber zuzuhoeren. Das kleine Instrument rueckt den Spieler sofort in den Mittelpunkt, sei es nun durchs Ein- oder durchs Ausatmen. Die meisten Teilnehmer litten unter Zystischer Fibrose oder schwerem Asthma, beides lebensbedrohende Lungenkrankheiten. Dazu hat die Klinik nun auch neue Schwerpunkte zum Thema "Gesellschaftskrankheiten" (z.B. Magersucht und Uebergewicht) in ihre Behandlungstherapien aufgenommen. In jedem Fall jedoch musste der einzelne mit seinen ganz eigenen Schwaechen und Staerken auskommen, sie bestimmten und warteten auf Bestimmung, sie rueckten jedes "Ich" in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Und aus all diesen Unterschieden entstanden dann auch die schlussendliche Vielschichtigkeit und Breite des Ton Quilts. Ein Decke, die wahre Waerme spendete.

Vielen Dank fuer die Erfahrung.


Im April 2002
Wale Liniger
Distinguished Lecturer
University of South Carolina, USA