"VORHANG AUF!"
		Walter Liniger, 2002
	
Die sechziger Jahre. Waren sie wirklich so
		tumultoes, oder stelle ich mir ihre Energie so vor weil ich dort meine Jugendjahre weiss?
		Auf der Aussenseite der Bau der Berliner Mauer, die Kubakrise, die Ermordung von Kennedy
		King Kennedy Malcolm X, Jugendunruhen, Vietnam, der russische Einmarsch in der damaligen
		Tschechoslowakei, Gekreisch um die Beatles, Demonstrationen Wasserwerfer Pflastersteine.
		Und auf der Innenseite meine Hoffnung und Neugierde auf wahrlich Neues, unerklaerlicher
		Zorn auf die Zeit, ohnmaechtige Lust auf Maedchen, und Traeume von der amerikanischen
		Weite.
		
		Das schleifende Kassettengeraet in meinem alten Volvo drehte sich unregelmaessig, und zu
		langsam. Sonny Boy's Harmonika keuchte aus den Lautsprechern und Muddy Waters hatte nun
		eine Bassstimme. Doch das kuemmerte mich wenig, zu Hause hatte ich ja tausende von
		Plattenrillen die sich mit normaler Drehzahl abspielen liessen. Ich war mit ein paar
		Freunden unterwegs nach Zuerich, und das wollte was heissen. Als Stadtberner fuhr man
		nicht ohne triftigen Grund nach Zuerich, so hatte uns die lokale Schweizer Geschichte
		gelehrt: die Zuercher sprachen zu schnell und zu viel, was von uns langsamen Bernern als
		Oberflaechlichkeit gewertet wurde, und dazu war Zuerich im Vergleich zu Bern eine
		Grossstadt, in der man sich leicht verfahren konnte; als Berner wollte man sich keine
		Bloesse geben und einen Zuercher nach dem Weg fragen muessen.
		
		Das Zuercher Volkshaus verfuegte ueber einen bodenstaendigen Saal: vom U-foermigen Balkon
		aus liess sich der grosse Parkettboden leicht ueberblicken (da es damals ueblich war bei
		Rock Konzerten die Stuehle zu zertruemmern, hatte man diese vorsichtshalber entfernt). Wir
		hatten freien Blick auf die Buehne. Ein schwerer Vorhang verbarg die Instrumente und
		Verstaerker. Einstimmig vermuteten wir das Schlagzeug in der Buehnenmitte, flankiert von
		Bass und Klavier. Ueber die Positionen der Harmonika Spieler und Gitarristen wurden wir
		uns nie einig. Vielleicht wuerde es gleich sein wie im Vorjahr, doch keiner erinnerte sich
		mehr. Wir waren frueh dort. So konnten wir unsere Plaetze auswaehlen, nochmals nach
		draussen gehen, im Auto kiffen und dazu Rotwein trinken. Der Saal fuellte sich mit
		verhaltenen Stimmen. Obwohl einem die andern fremd blieben, fuehlte man sich als Teil
		eines groesseren Ganzen. Dass man an diesem Tag im Volkshaus war sagte genug aus, wir
		hatten alle den gleichen Geheimkode. Man fuehlte die Besonderheit des Abends. Endlich: die
		Lichter im Saal erloschen, der Vorhang bewegte sich - das American Folk Blues Festival!
		
		Vom zweiten Takt an rollte die Musik ueber mich hinweg und sog mich hinaus in eine Welt
		der bereits erlebten Fantasie. Die Interpreten waren einmal mehr Beweis dafuer, dass meine
		kostbare Plattensammlung existierte. Anders ausgedrueckt: diese Musik gab es tatsaechlich
		so, wie ich sie bereits unzaehlige Male in meinen Kopfhoerern gehoert hatte. Und, anders
		als bei Rock Konzerten, wo die Musiker in ihren zerschlissenen Outfits wild auf der Buehne
		rumfetzten und einen mit lautstarkem Schmerz zum Ausbruch aufgeilten, ueberzeugten uns
		diese Bluesbarden durch ihre einzigartige Praesenz. Wenn ich die bleibenden Eindruecke der
		besuchten American Folk Blues Festivals auf einen Nenner zu bringen versuche, so nennt mir
		mein Herz drei kostbare Einsichten, denen ich spaeter waehrend meines zwanzigjaehrigen
		Aufenthalts in den amerikanischen Suedstaaten immer wieder begegnen sollte: Praesenz,
		Dynamik, und Raetsel.
		
		Ich war beeindruckt vom tadellosen Buehnenauftritt der meisten Musiker. Anstelle unserer
		grellfarbenen Hemden und angerissenen Hosen trugen sie dunkle Anzuege, manchmal gestreift,
		spiegelblank polierte Schuhe, Kravatten, und meist auch klassische Huete. Die Saengerinnen
		trugen ihrerseits das besonders Beste. Durch voreingenommene Linernotes auf vielen
		Plattenumschlaegen war ich der Annahme erlegen, dass ein Bluesmusiker meistens im Dreck
		seinen Rausch ausschlief. So hatte ich mir ja auch alle Muehe gegeben mich an diese
		vermeintlichen Schicksale ranzusaufen. Und nun wurde ich mit Gruppen von Individualisten
		konfrontiert, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, rassistisch gepraegten
		Fremdansichten entgegenzutreten.
		
		Zum zweiten gelang es diesen Musik Magiern auch uns mit leisen Toenen in Schwingung zu
		halten. Sie demonstrierten ein Zusammenspiel, bei dem nur einer Solo spielte waehrend die
		Gruppe den "groove" beibehielt. Die geballte Ladung Kraft kam aus einem
		gegenseitigen kulturellen und sozialen Verstaendnis was die Aufgabe der Musik sei: ein
		innerer Aufbau, und nicht der individuelle Niederriss, dem sich damals viele Rock Musiker
		und ihre Fans verschrieben hatten. Anstelle des chaotischen Individualismus den ich hinter
		dem Bues vermutete, begegneten mir Disziplin und Ausgearbeitetes.
		
		Und fuer mich vielleicht das Wesentlichste: trotz all meiner Anstrengung sichtbare und
		hoerbare Einzelheiten aufzusaugen und fuer meine Ewigkeit zu behalten, blieben die Musiker
		auf der andern Seite eines unsichtbaren Vorhangs. Fuer mich waren die Rhythmen jung und
		neu, und dabei waren die Spieler bereits "alt." Ich fuehlte, dass dieser Musik
		etwas Zeitloses zu Grunde lag; aber irgendwie ahnte ich wohl auch, dass ich kaum hinter
		das Geheimnis kommen wuerde. Es war ein erster Anstoss mit dem Unvermoegen eine kulturelle
		Andersstimme in ihrer Vollstaendigkeit zu uebersetzen.
		
		Und dann versank das American Folk Blues Festival wieder im dunklen und leeren Saal. Doch
		schwangen Gehoertes, Gesehenes, und Erfuehltes in mir nach. Einem Puzzle aehnlich sollten
		viele Einzelstuecke erst Jahre spaeter endlich ihren Platz finden. Jedenfalls trage ich
		Wunsch und Willen tieferen Einblick in diese seltsam vertraute Fremdkultur zu gewinnen
		seit damals in mir.
		
		Zeit verging. Ein wesentlicher Bestandteil des Blues scheint sich nicht nur in der Suche
		nach einem "Zuhause" auszudruecken, sondern auch in der Einsicht, dass dies nur
		temporaer zu erreichen sei, wenn ueberhaupt. 1982 verliess ich die exakt funktionierende
		Kleinheit "Schweiz," und uebergab mich der riesigen Widerspruechlichkeit
		Amerikas. Seit zwanzig Jahren lebe ich nun im amerikanischen Sueden: bis 1993 arbeitete
		ich im Blues Archive der University of Mississippi, und seit 1993 unterrichte ich einen
		Kurs zum Thema "Blues" an der University of South Carolina. Mit gemischten
		Gefuehlen denke ich dabei an die langjaehrige Lernzeit, und schlussendliche Zusammenarbeit
		mit dem Delta Bluesmann James Son Thomas zurueck. Wie wenig ich mir ueberlegt hatte,
		damals, als ich ihn fragte, ob er mir den Blues lehren koenne. Ich dachte an Gitarren
		Akkorde und Harmonika Riffs, er dachte an sein Leben in Mississippi. Ueberleben in
		Amerika.
		
		James Son Thomas war auch einer der Musiker am American Folk Blues Festival. Viel wusste
		er davon nicht zu berichten, ausser dass die Gruppe "gut funktioniert" habe.
		Dazu gehoerten saemtliche kleinen Intrigen, Scherze, und Anekdoten die sich zwangslaeufig
		ergeben, wenn man sich als relativ geschlossene Gruppe in einer andern Kultur zu
		praesentieren hat. Thomas war ein aeusserst schwer zugaenglicher Mensch. Er trug
		Mississippi in sich wohin er auch ging. Als ich ihm endlich erklaeren konnte, dass die
		Schweiz suedlich von Deutschland liege, erwaehnte er Kontrollen und Polizei. Erst als ich
		vor kurzem seinen alten Pass in einer meiner Erinnerungskisten fand, wurde mir die
		damalige Aussage klar. Da sind gleich fuenf Stempel drin, die sich alle auf den gleichen
		Tag beziehen: Aufenthaltsberechtigung fuer die Deutsche Demokratische Republik, 08.
			Nov. 1982. Und Visum Nr. 1/81/766 ueber die zugelassenen Grenzuebergangsstellen Berlin.
		Was Son Thomas wohl fuer Eindruecke mit sich nach Hause getragen hat? Mir hat er sie nicht
		alle erzaehlen koennen, denn er wollte mich nicht beleidigen. Die Schweiz, Deutschland,
		Europa gehoerte alles irgendwie zusammen, und es war nicht Mississippi.
		
		Was ihn jedoch erstaunte war der Respekt, den das europaeische Publikum dem Blues und
		seinen Vertretern entgegenbrachte. Ueberall wurde er umsorgt, fotografiert, gebeten, und
		gepflegt. Ja, die Strapazen der Reise setzten seiner Gesundheit zu, und auch das Brot
		konnte sein beinahe zahnloser Mund nicht kauen; ihm fehlten die heimischen
		"biscuits." Die Huehnchen wuerden nicht gleich zubereitet wie beim
		"Colonel" (Kentucky Fried Chicken), doch gebacken waren sie ihm ebenfalls recht.
		Auch begriff er nicht, warum die Autos nicht von den Hoehen und Bergen runtergerutscht
		seien. Am wohlsten war ihm in der schier endlosen Flaeche des Mississippi Delta. Wohl war
		ihm aber auch, wenn er sich endlich hinlegen konnte.
		
		Damals. Wir spielten in einem kleinen Juke Joint in Columbus, Mississippi. Wie ueblich
		reiste Son Thomas mit einem riesigen Koffer rum, der zwar fast leer war, doch Wichtiges
		enthielt: ein paar lose Rasierklingen, eine kleine Flasche Dr. Tichnor Mundwasser, zwei
		anheftbare Kravatten, mindestens ein frisch gebuegelter Anzug, ein Paar neue Schuhe und
		Socken. Dafuer fehlten ihm wie ueblich Gitarren Saiten, doch das war ja meine Aufgabe. An
		diesem Abend im Motel holte er aus der gaehnenden Tiefe des Koffers zwei neue, gelbe
		Baumwollhemden. Ohne Kommentar legte er eines auf mein Bett. Von da weg trug ich immer ein
		frischgewaschenes Hemd, manchmal sogar eine Kravatte, wenn ich mit Son auftrat. Da er
		nicht ein Mann von vielen Worten war, ging es eine Weile bis ich die Lektion begriff:
		Kleider sind wesentlich gerade wenn man Blues spielt, da man mit jedem Auftritt die
		relativ niedere Klasseneinstufung des Blues Spielers zu widerlegen hat. Ich hatte das
		Gefuehl, dass er mir genug vetraute um mir diese Belehrung zu erteilen. Der Leser sei sich
		bitte bewusst, dass in Mississippi ein Schwarzer normalerweise keinen Weissen in seinem
		Auftreten belehrt. Die Geschichte beweist das zur Genuege.
		
		Unsere Musik war selten laut. Er gab mir Anweisungen wie sein Gitarrenton einzustellen
		sei, und der war immer warm mit genug Tiefen drin. Wenn man selber Musik spielt merkt man
		bald einmal, dass das Publikum bei zu grosser Lautstaerke kaum mithoert. Ton und
		Lautstaerke gehoeren zusammen, sie bestimmen zu grossen Teilen auch den Tiefgang der
		Musik. James Son Thomas war ein Meister des langsamen Blues, und den spielten wir meistens
		auch relativ leise. Seine knochigen Finger strichen sachte ueber die Saiten. So saehte er
		seine Noten im Raum. Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit wuchsen in den stillen
		Zwischenraeumen. Trotz der harten lyrischen Wahrheiten blieben die einzelnen Toene rund,
		sogar weich. Seine Stimme schwang sich zum autoritaeren Falsetto hoch. Sie forderte
		heraus. In solchen Momenten wurde mir klar, dass Thomas einer Kultur angehoerte, die
		gelernt hat grosse Energien aus einer eigenartig fluesternden Stille zu schoepfen. Mit
		Stolz trug ich zwar mein Hemd, trotzdem stand ich neben einem Unbekannten.
		
		Waehrend unserer beinahe zehnjaehrigen Bekanntschaft verbrachten wir unzaehlige Stunden
		gemeinsam: im Auto, im Flugzeug, in Motel Zimmern und auf Buehnen jeglicher Art, bei ihm
		zu Hause in Leland, oder bei mir in Oxford. Son Thomas schlief oft, muede von seinen
		allgegenwaertigen Sorgen um seine vielen Kinder, erschoepft von seinem rauchig-rasselnden
		Ringen um Sauerstoff (er litt an einer Staublunge), umwoben von Beruhigungsmittel gegen
		seine epileptischen Anfaelle. Alkohol habe ich ihn nie trinken sehen, dafuer rauchte er
		hustend seine Pall Mall Zigaretten. Und unzaehlige Male erzaehlte er die gleichen
		Geschichten, sie gehoerten zu seinem Repertoire. Sie boten ihm Schutz und Halt. Vielfach
		tauchte darin der Begriff von "cotton" auf, wie zum Beispiel "we had to
		make that cotton," oder "chopping cotton." Es ist mir bis heute nicht
		gelungen diesen Begriff zu meiner Zufriedenheit zu uebersetzen, zu viel kulturell und
		sozial Unvertrautes schwingt mit. Das Wort "Baumwolle" genuegt nicht. Thomas
		hatte nie ausserhalb einer kleinen Mississippi Gemeinde gewohnt, und "cotton"
		klebte an jedem seiner Blues. Der Mann blieb mir, dem Suchenden, ein Raetsel bis am
		Schluss: auf der einen Seite gefaehrlich-sanft wie der schwarze Sumpf in den Zypressen
		Hainen, und auf der andern Seite zaeh-klebrig wie dunkle Melasse. Unberechenbar wie der
		Blues, der uns immer wieder auf uns selber zurueckwirft. Es gab einfach zu vieles das ich
		nicht verstand.
		
		So betrachtet stehe ich eigentlich erst am Anfang mit meinem eigenen Blues ein
		konstruktives Verhaeltnis aufzubauen. Son Thomas lehrte mich, dass das Leben mit dem Blues
		eigentlich kaum was mit Musik zu tun hat. Dass es jedoch, wenn man dieser Lebenshaltung
		durch Musik oder durch eine andere kreative Spiegelung Ausdruck geben will, die eigene
		Geschichte zu sein habe. Es ist schlussendlich die einzige Wahrheit die wir kennen.
		
		Meine Hoffnung und Neugierde auf wahrlich Neues bleibt. Der Zorn auf die Zeit hat sich
		erklaert. Meine erotischen Gelueste halten sich im altersbedingten Rahmen. Und wie leicht
		die amerikanische Weite doch zur Vereinsamung fuehren kann. Und eben gerade deswegen bin
		ich froh, damals trotz meiner geschichtlichen Vorbelastung nach Zuerich ans Amerikanische
		Folk Blues Festival gefahren zu sein.
		
		Im Maerz 2002
		University of South Carolina, Columbia
		Walter Liniger
	
BLOWIN' ON THE MOUNTAIN TOP
Wale Liniger
Gedanken zum Mundharmonika Workshop an der Alpinen Kinderklinik Davos,
27. März - 7. April, 2002
		Ein kalter Wind fegte ueber die verschneiten Berghaenge. Ab und zu glitten wolkige
		Schatten ueber das mittaegliche Sunrise Drive-In auf der Parsenn oberhalb Davos. Und doch
		haette die Stimmung an diesem Sonntag (7. April) kaum besser sein koennen: das sonnige
		Wetter versprach einen wuerdigen Abschluss fuer alle die sich nochmals ihre Skis oder
		Snowboards anschnallen wollten, der Eishockey Club Davos war am Tag zuvor Schweizermeister
		geworden, und warm eingekleidete KIWANIS Mitglieder tanzten und sangen zur Musik einer
		Gruppe Harmonikaspieler aus der Alpinen Kinderklinik Davos. Oder vielleicht stapften sie
		sich einfach ihre kalten Fuesse warm. Zum Glueck geschah dies im vorgespielten Rhythmus.
		Genau werden wir das wohl nie erfahren. Was jedoch unbestritten bleibt ist die zeitliche
		Einmaligkeit des Blues Brunch auf der Parsenn: umrahmt von Sonne und Wille, von
		Begeisterung und Abschied.
		
		Wie bereits im Sommer 2000 kam es auch in diesem Jahr wiederum zu einem Harmonika Projekt
		an der Alpinen Kinderklinik in Davos. Im Gegensatz zur frueheren Studie, welche dem
		Harmonikaspiel viele positive medizinische und psychologische Folgen nachweisen konnte,
		diente dieser Workshop nicht einer weiteren wissenschaftlichen Beweisfuehrung, sondern der
		Anwendung dieser Erkenntnisse. Der zehntaegige Workshop kam dank der grosszuegigen
		Zusammenarbeit zwischen den Hauptsponsoren zustande; der sonntaegliche Blues Brunch auf
		der Parsenn wurde zum kroenenden/toenenden Abschluss. Die KIWANIS Stiftung Schweiz -
		Liechtenstein handelte ganz im Sinne des weltweiten KIWANIS' Motto "Young Children
		Priority One," und sicherte ihre finanzielle Zusage dieses Jahr der Alpinen
		Kinderklinik in Davos zu. SUNRISE, Anbieter von modernen Kommunikations Systemen, war
		dafuer besorgt, dass dieses Projekt tatsaechlich auch entstehen konnte und der
		Oeffentlichkeit zugaenglich wurde. Die Alpine Kinderklinik Davos unterstuetzte den Anlass
		im Rahmen ihres grossen Angebots von ergaenzenden Therapien. Die Firma Hohner stiftete die
		noetigen Mundharmonikas.
		
		Die eindrueckliche Bergwelt rund um Davos zeigte sich waehrend des ganzen Workshops in
		ihrer besonnten Pracht. Die gesundheitsfoerdernde Hoehenlage Davos' ist seit Jahren
		weltbekannt, die vielen Kliniken und Ferienwohnungen legen dafuer weiteres Zeugnis ab.
		Berge sollen Kraft geben, ihre wahre Groesse liege versteckt unter den sichtbaren
		Felsschichten, meinen die einen. Andere wiederum fuehlen sich eher bedraengt und
		"uebertuermt" von den zeitlosen Riesen. Fuer viele Patienten wurde in der Folge
		die Mundharmonika zu einem dieser Berge: der eine schoepfte sofort ungeahnte Energie aus
		dem unbekannten Instrument, die andere brauchte etwas laenger um sich von persoenlichen
		Vorbehalten dem Thema "Musik" gegenueber zu loesen.
		
		Stimmen. Jeder von uns kennt sie: es gibt welche, denen wir uns gerne bedienen, und es
		gibt solche, die wir nur mit grosser Ueberwindung zur hoerbaren Oberflaeche aufsteigen
		lassen. Wir schicken unsere Stimmen auf Reisen, manchmal sehr zielstrebig, ebenso haeufig
		aber auch aufs Geratewohl. Und in der Stille vernehmen wir noch welche, die auf Gehoer
		warten. Stumme Stimmen sind haeufig kraeftig und farbig, in vielen Gefuehlsschichten
		eingewickelt ernaehren sie sich von unseren Traeumen und Fantasien. Dort tun sie sich
		schwer, selten wollen sie sich zeigen, und doch draengen sie auf ihren ganz eigenen,
		bisher ungehoerten, Ton.
		
		Toene. Sie schaelten sich aus den inneren Umarmungen und suchten nach dem Ueberleben
		ausserhalb ihrer vertrauten Umgebung. Traeume, aengstliche und freudige, grosse und
		kleine, ritten auf den Atemzuegen. Manchmal jubelte eine Stimme ueber etwas Gefundenes,
		grosszuegig malte sie mit satten Farben Riesiges an den Horizont. Das Ausatmen tat dabei
		so gut. Dann wiederum vernahm ich keuchendes Suchen nach Entspannung, die Hoffnung auf
		endliches und tiefes Einatmen trieb solche Toene voran. Stimmen. Sie sprachen vom Alltag,
		sie suchten sich einen Platz zwischen Therapien und Infusionen, sie erzaehlten von
		Wertvollem, manchmal versteckten sie sich, oft rasten sie wie gewaltige Boeen durch die
		Gruppen. Doch immer kamen sie wieder. Neugierig. Begierig.
		
		
		Atem. Jeder hatte eine eigene Geschichte zu erzaehlen. Und so entstanden viele
		verschiedene Tonbilder: die Mundharmonikas brachten das Ein- und Ausatmen an die hoerbare
		Oberflaeche, wo die einzelnen Geschichten Formen annehmen konnten. Jeder Teilnehmer war
		aufgefordert seinen eigenen Vorstellungen Tonraum zu schaffen. Rhythmus und Tonart waren
		im Grunde genommen die einzigen Kompromisse die noetig waren, um aus all den vielen
		Einzelstuecken schlussendlich dann einen "Ton Quilt" zu weben. Und Praesentation
		dieses "Quilt's" war denn auch das angestrebte Ziel.
		
		Stories. Es gab Geschichten vom Ausbruch. Die Toene waren dann schrill, heftig, und
		wirkten erst durch die nachfolgende Stille befreiend. Andere Geschichten erzaehlten vom
		Verliebtsein; diese Toene waren lockend, leicht, doch auch etwas unbestaendig weil kaum
		nachahmbar. Stimmen zu dieser Geschichte lebten von der Rastlosigkeit und der Suche nach
		dem Uebertreffen der Gegenwart. Dann wiederum gab es laute und eindeutige Kommentare,
		gewachsen auf dem Boden des Triumphs und der Freude. Ab und zu draengte sich auch die
		Suche nach dem Ausdruck des Blues' ans Ohr.
		
		Blues. Es war schlussendlich der Blues der sich durchsetzte. Eine Musik, die sich zu einer
		bestimmten Lebenshaltung aeussert. Solcher Kommentar muss getragen sein vom Versuch
		groessere Lebenszyklen zu erkennen, von der Einsicht in persoenliche Wahrheiten, von der
		Moeglichkeit und Wahrscheinlichkeit dass sich alles aendern kann, vom Arbeiten am Moment.
		Diese Stimmen arbeiteten vor allem an der Tonqualitaet, und am Anhoeren der Stille. Sie
		merkten bald, dass das Suchen nach einem eigenen Ton viel Zeit braucht, und dass diese
		Zeit auch die abgrenzenden Stillephasen einschliessen muss. Eine Zeit des Wachstums, und
		schlussendlich auch eine Zeit des Findens. 
		
		"Quilt of Sounds." Und so kam es am Schluss des Workshops zu zwei Konzerten fuer
		die erwaehnten Sponsoren, und fuer die interessierte Oeffentlichkeit. Waehrend eines
		Aperos im Hotel Steigenberger vetrieben spitze Kurztoene imaginaere Kuehe, die vor
		imaginaeren Zuegen zwischen den imaginaeren Geleisen grasten, mit schwungvollen Bildern
		hing jeder einzelne der ertraeumten Geschichte von "I Love the Way You Walk"
		nach, und dass man zu einem Shuffle wie "Kansas City" sogar bei einem Gala Essen
		etwas tanzen kann, bewiesen die zahlreich geladenen Gaeste. Am naechsten Tag gingen Tanzen
		und Mitsingen weiter. Waehrend des Blues Brunch' auf der Parsenn kamen alle Stimmen
		nochmals zum Tragen. Auch hier wurden ihre Geschichten von den Schneehungrigen und den
		Neugierigen gehoert. Und wer weiss wie weit die Winde all die Traeume und Wuensche
		trugen.... "The answer, my friend, is blowing in the wind," sang Bob Dylan schon
		vor vielen Jahren.
		
		
		Dank. Mein besonderer Dank richtet sich an all die beherzten Musiker der Alpinen
		Kinderklinik. Ohne ihren Mut und ihre Neugierde etwas Neues zu ertasten, waere ein solches
		Projekt kaum denkbar gewesen. Das Spielen der Mundharmonika verlangt grosse
		Selbstdisziplin, und den Mut sich selber zuzuhoeren. Das kleine Instrument rueckt den
		Spieler sofort in den Mittelpunkt, sei es nun durchs Ein- oder durchs Ausatmen. Die
		meisten Teilnehmer litten unter Zystischer Fibrose oder schwerem Asthma, beides
		lebensbedrohende Lungenkrankheiten. Dazu hat die Klinik nun auch neue Schwerpunkte zum
		Thema "Gesellschaftskrankheiten" (z.B. Magersucht und Uebergewicht) in ihre
		Behandlungstherapien aufgenommen. In jedem Fall jedoch musste der einzelne mit seinen ganz
		eigenen Schwaechen und Staerken auskommen, sie bestimmten und warteten auf Bestimmung, sie
		rueckten jedes "Ich" in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Und aus all diesen
		Unterschieden entstanden dann auch die schlussendliche Vielschichtigkeit und Breite des
		Ton Quilts. Ein Decke, die wahre Waerme spendete. 
		
		Vielen Dank fuer die Erfahrung.
	
		Im April 2002
		Wale Liniger
		Distinguished Lecturer
		University of South Carolina, USA