sidemeat Liner Notes (deutsch) Liner Notes (englisch)

 

sidemeat

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ETTA BAKER
JAMES SON THOMAS
WILBURT LEE RELIFORD
JOHNNY WOODS
FRANK DAVIS
JUNIOR KIMBROUGH

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sidemeat

Es handelt sich um die Speckseite des Schweins, die, anstatt durch Rauch, mit viel Salz, Pfeffer und Gewürzen konserviert wird. "Sidemeat" ist ein wesentlicher Bestandteil der traditionellen Südstaaten Küche, sei dies nun z. Bsp. als Geschmacksbereicherung von Gerichten, oder als allein stehende Beilage.

Vor vielen Jahren sagte mir Etta Baker nach unserem Auftritt am MerleFest, dass meine Musik wie sidemeat sei. Da ich ja wusste wie sehr sich Etta jeden Morgen über gebratenes sidemeat freute, fasste ich ihre Aussage als Kompliment auf. Nach einem besonders gut gelungenen Song nannte sie mich danach oft "Sidemeat."

In den vorliegenden Aufnahmen spüre ich, wie ich damals mit leidenschaftlicher Neugierde auf eine mir fremde Kultur losgestürmt bin; sie wird mir trotz allem Wollen fremd bleiben. Ich hüre in jedem der ausgewühlten Musikstücke Momente der Intimitüt und Spuren der Neubegehung. Beim Anhüren folgen mir die erlebten Geschichten ins Jetzt, fremde Geschichten vernetzen sich mit meinen. Und immer noch erlebe ich meinen inneren Tanz, ich spüre meinen Atem wührend ich versuche mich im erfühlten Raum zurechtzufinden.

In den Aufnahmen mit Etta Baker und James Son Thomas hüre ich all das Selbstvertrauen und Verbindende das nur durch eine Beziehung entstehen konnte, die weit über das Musizieren hinausreichte. Der vorliegenden Auswahl liegen schier unzühlige Spielstunden zugrunde an die ich mich zwar zu erinnern glaube, die jedoch nie aufgenommen wurden. Die Tracks illustrieren wohl "sidemeat" am besten, doch keinesfalls endgültig.
Die restlichen Stücke sind musikalische Beitrüge aus Interviews, die ich in der Zeit 1987-90 in Mississippi gesammelt habe. Es sind aufgenommene Zufallsmomente: noch meine ich die Erdnühe von Johnny Woods zu spüren, das tief-innere Kitzeln bei Frank Davis und Wilburt Lee Reliford, und der durchatmete Raum rund um Junior Kimbrough.

Ich habe die musikalischen Aufnahmen durch Ausschnitte aus meinen damaligen schriftlichen Aufzeichnungen ergünzt. Somit wird "sidemeat" zu einem musikalisch-literarischen Tagebuch. Ich hoffe meine Erinnerungen, verknüpft durch Ton und Wort, werden auch für den Hürer zum Gaumenkitzel.

Wale Liniger, 2007



ETTA BAKER

Die langen Finger ihrer linken Hand gleiten mit flinker Leichtigkeit den Saiten entlang - fast gleichen sie dem über den Erdboden rasenden stummen Schatten einer überfliegenden Vogelschar. Sie scheinen das Fingerbrett des Gitarrenhals' kaum zu berühren, und dennoch spritzen die Noten ans Gehür. Wührend Ettas Finger ihren magischen Tanz aufführen, rufen Daumen und Zeigfinger ihrer rechten Hand die Tüne ins Leben. Sie erzühlen Geschichten von Hoffnung und Licht und vom Ende der Trauer, sie erinnern an lange Tage voller Arbeit und an die kurzen Nüchte angefüllt mich Freude, sie wissen um die gleitenden Füsse wührend eines langsamen Walzers und sie kennen die klickenden Rhythmen im Stepptanz. Ettas Lieder haben bereits etliche Generationen von Menschen begleitet, doch sind sie nicht ausgebrannt. Sie erneuern sich stets am Erinnerten. Manchmal bockt die Gitarre wie ein übermütiges Pferd vor dem Rennen, dann wiederum fallen ihre Tüne wie der Tau am frühen Morgen. Noch nie zuvor habe ich solch fliessende Strünge von Ton-Perlen gehürt, oder gesehen; sie ergeben ein Mosaik vom einstigen Leben hier im amerikanischen Süden.

Seit geraumer Zeit liege ich wach. Ich hüre in den nüchtlichen Garten hinaus. Ettas stetes Rechen ist Zeichen ihres tüglichen, stummen Dialogs mit innerem Frieden und Gleichgewicht. Fast scheint es, als ob das Unkraut bei Nacht getilgt werden muss, so dass Wachstum und Schünheit der Lebensfarben bei Tag nicht gestürt werden. Doch ist es auch der Zeitabschnitt in welchem Etta neue Kraft aus den stillen Erinnerungen schüpft: die Barke des wilden Kirschbaums erinnert sie an ihren Onkel, der stündig Wald und Flur auf der Suche nach Heilpflanzen durchwandert hatte; die Ingwer Wurzel hilft uns Erkültungen und anderes Unwohlsein zu bekümpfen; und Rüben schmecken am besten wenn man sie mit "sidemeat," scharfen Pfefferfrüchten und braunem Zucker kocht - Erinnerungen an die einstige Zeit an den Ufern des Johns River.

Der Geruch des gebratenen "sidemeat" erreicht mich vor Sonnenaufgang. Ich habe Ettas Rückkehr vom Garten nicht gehürt, sie bewegt sich mit unglaublicher Leichtfüssigkeit. Ich vernehme das leise Quietschen der Ofentür, und plützlich finde ich mich in meiner Kindheit wieder. Auch in unserer Küche befand sich ein kleiner Holzofen, und ich sehe wie meine Mutter an einem kalten Morgen das Feuer entfachte. Meine Aufgabe war es dafür zu sorgen, dass genug Kleinholz vorhanden war. Ettas Küche empfüngt mich mit einer wahren Symphonie von braungebackenen Brütchen, gekochtem Reis, gebratenem Schinken und "sidemeat," gekochten üpfeln, Spiegeleiern, und starkem, schwarzem Kaffee. Der erste Sonnenstrahl tastet sich langsam dem Kühlschrank entlang. Etta schenkt uns Kaffee ein, senkt den Kopf und spricht ihr Tischgebet. In der Ferne hüre ich den samtenen Ruf einer Taube.

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Wührend einer meiner vielen Besuche nahmen Etta und ich "Boogie" und "Careless Love" im Wohnzimmer auf. Die Stücke gehürten zum Ritual des Besuchs, sie sind Zeugen von positiver Kraft und Lebensfreude, Energien welche Etta immer sehr hoch einstufte. "Madison Stomp" und "John Henry" sind die einzigen Studioaufnahmen, die wir je machten [beide Songs sind auch auf Wale Linigers CD BETTER DAY zu finden]. Doch auch sie folgten einem gewichtigen Frühstück und der folgenden Zelebrierung der Vergangenheit. "Madison Stomp" ist benannt nach Ettas Vater, Boone Madison Reid, der seinerseits ein virtuoser Musiker gewesen war und Ettas grosses Vorbild für gelebte Weisheit geblieben ist. Ettas Absicht war es gewesen auf ihrer alten elektrischen Gibson durch das Lied zu tanzen, und genau das hat sie dann auch getan.

Wir hatten beide eine Vorliebe für "John Henry," vielleicht weil das alte Lied ganz den Anfang unserer Freundschaft symbolisierte: bei unserem ersten Zusammentreffen im Jahre 1984 hatten wir den legendüren Tunnel auf der C&O Strecke in Talcott, West Virginia besucht. Hier war der Legende zufolge John Henry im Wettkampf mit einer mechanisierten Bohrmaschine gestorben. Etta erinnerte sich ihres Onkels, der ihr den Song vor langer Zeit beigebracht hatte, und als Harmonika Spieler erinnerte ich mich an meinen Wunsch diesen wesentlichen amerikanischen Song zu lernen. Bei meinem letzten Besuch, ein paar Wochen vor ihrem Tod (2006), erklürte Etta noch einmal, dass sie glaube diese Version sei die beste.



JAMES SON THOMAS

Gierig saugt Son an seiner Pall Mall Zigarette. Ein tiefer Hustenanfall folgt und schüttelt seine knochigen Schultern. Langsam kriecht der blassblaue Rauch sein Gesicht hoch, zuerst den tiefen Linien entlang welche sich von seinen Nasenflügeln zu seinen Mundecken ziehen bevor er sich fast in den Faltmustern seiner Stirne verliert - es sind tiefe Furchen, geschrieben vom langen Nachdenken über wirkliche und fantastische [hier im würtlichen Sinn gemeint] Schattengebilde. Der Strohhut sitzt im traditionellen Winkel auf Sons hoher Stirne; im Schatten seines Randes sehe ich Sons Augen. Die dunklen Pupillen schwimmen im gelblichen Weiss, Augen die schwer zu lesen und zu deuten sind. Als er endlich hinter dem rauchigen Dunst hervortritt, sehe ich einen schmalen, ausgemergelten Mann, leicht nach vorne gebeugt, wie einer der unter einer schweren Last das Gleichgewicht zu halten sucht. Seine langen Finger fühlen sich kalt und dünn-hart an. Die Hand ist schlank und bleibt unter meinem Hündedruck schlaff und ohne Antwort. So treffen wir uns.

Wührend unserer gemeinsamen Zeit versucht mir James Son Thomas "sein Mississippi" stündig wieder zu erklüren; es ist ein Ort wo mein Denken und meine Logik nicht zu funktionieren scheinen. Oft sind seine Antworten einfach, fast wie ein Mantra: du bist nun nicht mehr jenseits des Ozeans, du bist in Mississippi, du tust was der Mann dir befiehlt. Son spürt die versteckten Sinklücher und Fallen in den scheinbar seichten Gesprüchen, das Leben hat ihn gelehrt was zu vergessen sei und was in Erinnerung bleiben müsse. Sein ausgeprügter Sinn für geschichtliche Rituale hilft ihm in seiner Gegenwart zu leben; in jedem seiner Lieder formuliert er seine Vergangenheit neu. Die Zukunft erscheint ihm als ein Ort vermummt in Hoffnung, Glauben und Vertrauen, als ein sehr intimer Ort. Das Delta ist sein Zuhause, er wird hier bleiben, und ich muss mir die Antworten selber verdienen, eben durch gelebte Zeit und Beobachtungen.

Wir sind die Summe unserer Erinnerungen. Son zeigt mir hüufig Dinge mit denen ich kaum klarkomme; enthüllte Wahrheiten, die ich nicht verstehen kann, liegen seinem Blues zugrunde. Seine tiefen Gedanken, wie er etwa die stillen Momente des Nachdenkens nennt, sind geplagt von Schuldgefühlen. Schuld weil er nicht dort war als seine Mutter starb, Schuld weil er an einen Gott glaubt, dabei jedoch weiterhin Blues spielt. Er trügt eine schwere moralische Last. Der Blues braucht mehr als feurige Hingabe an die musikalische Stimme. Er fordert andauernde Aufmerksamkeit für die unsichtbaren Krüfte der Stille, er verlangt Verführung, Triumph und Versagen, Einigung mit dem Vergangenen, Hoffnung und die Selbstaufgabe an moralische Prinzipien.

Der Blues von Son Thomas krallt sich an seiner Vergangenheit fest, überzeugt, dass die Wahrheit in der Erfahrung liege. Son Thomas skizziert sich durch die Auswahl seiner Lieder und Geschichten. Dabei weiss er, dass der Blues ihn in eine Welt entführt die nur ihm alleine gehürt. Es amüsiert ihn küstlich, dass er mich mit einem Lied abschütteln kann wenn er will.

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Die Stücke "Train I Ride" und "Big Boss Man" wurden beide im Rooster Blues Studio in Clarksdale, Mississippi aufgenommen [1990 als BOTTOMLANDS auf Kassette R 961000 herausgegeben]. über die Jahre hin hatte mir Son Thomas oft gesagt, dass ich "Big Boss Man" spielen müsse, falls ich es in Mississippi zu etwas bringen wolle; es ist ein Klassiker bei schwarzem & weissem Publikum. Vielleicht hat die Beliebtheit von "Big Boss Man" mit dem ansteckenden Rhythmus und/oder mit dem Text zu tun. Wie konnte vor all den Jahren ein Schwarzer einem Weissen sonst sagen, dass er ja gar nicht so gross sei, sondern einfach nur grossgewachsen, wenn nicht in einem Lied? Die vorliegende Version ist für mich eine Perle, weil Son Thomas mir endlich Platz zu einem überraschenden Solo liess. Es war das einzige Solo wührend unserer Partnerschaft.

In all den Jahren der Zusammenarbeit (1985-1993) spielten wir "Lonesome Day" nur ein einziges Mal (1987, wührend einer Aufnahme Session zu GATEWAY TO THE DELTA, Rust College in Holly Springs, Mississippi). Ich erinnere mich: als Son seine Gitarren Einleitung anzupfte wollte ich ihm sagen, dass wir "Sugar Mama" soeben eingespielt hütten, ein Blues mit fast identischer Notenfolge am Anfang. Zum Glück merkte ich früh genug, dass eine der Noten leicht anders daherrollte, und ich schwieg. Aufgrund meiner Erfahrung mit Son muss ich sagen, dass es sich hier um eine momentane Collage handelt die wir weder vorher, noch danach, je wieder gespielt haben. Vor vielen Jahren glaubte ich, dass alle Blues Songs so [im Moment] zusammengestellt würden. Die Zeit hat mir gezeigt, dass meine Glaube ein Irrtum gewesen war.



WILBURT LEE RELIFORD

Eine dünne Rauchfahne steigt aus dem Kamin zum üden Himmel hoch. Wilburts massige Figur steht in der offenen Türe des Hauses. Das Innere verstrümt etwas Unheimliches, etwas Heimgesuchtes. Das langweilige Grau der Zementblücke und die mich umgebende Dunkelheit sind im wahrsten Sinne atemraubend, fast beüngstigend. Die Luft ist mit dem Geruch von kochenden Bohnen und Fett gesüttigt, Schweinehals Knochen blubbern auf dem Holzherd. Wilburts Welt ist eine von Grauwerten. Er braucht kein Licht, da seine Blindheit ihre eigene Welt entwirft. Es gibt keine Fotos an der Wand die meine unausgesprochenen Fragen beantworten künnten. Er hült sein Haus sauber, und dennoch grinsen mich die Kakerlaken an. Wilburts laute Stimme füllt die Leere seiner Augen, eine Stimme die gut zu seinem krüftigen Kürper passt. Seine nackten Füsse rutschen über den Zementboden, die grossen Hünde suchen sich ihren Weg den Wünden nach. Er verlor seine Sehkraft im Jahre 1937 als er gerade 13 Jahre alt war. Gott ist unser Freund, doch unsere Augen sind es auch. Ein dicker Nebel liegt stündig zwischen mir und dem Tageslicht. Ich kann das Tageslicht vom Dunkel unterscheiden. Ich kann alles sehen was so gross ist wie das Tageslicht. Es nimmt ihn wunder, ob es in der Schweiz auch farbige Menschen gebe.

Normalerweise hült Wilburt die Türen abgeschlossen, weil er die Welt als zunehmend feindlich und gewalttütig auffasst. Ein kleiner Taschenradio vermittelt ihm nicht nur Zugang zu R&B Musik, sondern auch zu den letzten Nachrichten aus Memphis, seien das nun Meldungen über neue Mordfülle oder über die politischen Spekulationen zu einem amerikanischen Eingriff im Persischen Golf. Kriege und Gewalt, alles durchzogen mit atmosphürischer Statik. Doch verfolgen ihn auch gewisse Bilder aus seiner Vergangenheit: er erzühlt von einer Lynchjustiz in New Albany und von einem Toten im Tallahatchie River im Jahre 1932, und dass seine Frau von ihrem ersten Mann erschossen worden sei. Trotzdem geniessen wir beide unsere gemeinsame Zeit, egal was uns das Radio mitteilt.

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Als Wilburt seine Harmonika ansetzte und meinte hier ist ein Lied das vor langer Zeit sehr bekannt gewesen war, hatte ich keine Ahnung, was er spielen würde. Doch war ich zum Glück vertraut mit seinen Rhythmen. Wenn ich mir nun im Nachhinein diesen aufgezeichneten Moment aus Wilburts Küche anhüre, so entdecke ich nicht nur meine verzweifelte Bemühung ihm durch den Song zu folgen, sondern eben auch wie mir mein Buchwissen und -glauben zum Thema "Blues Musik" in die Quere kamen.



JOHNNY WOODS

Ich hatte Johnny Woods bereits zuvor einmal getroffen. Wührend des 1985 Blues & Gospel Festivals in Holly Springs, Mississippi hatte ich die zwei Harmonika Spieler Johnny Woods und Wilburt Lee Reliford (ein Cousin von Junior Kimbrough) auf der Gitarre begleitet. Es hatte damals einige Zeit gedauert bis sich die zwei über die Tonart einigen konnten; das Finden eines gemeinsamen Lieds war eine andere Angelegenheit gewesen.

Die Strasse zu Johnnys Haus ist voller Schlaglücher und Pfützen, misshandelt von schweren Lastwagen. Sie führt am Kieswerk vorbei. Endlich finde ich das Haus auf der linken Strassenseite. Der Regen füllt vom zerbeulten Blechdach, einige Fensterscheiben sind zerbrochen. Johnny üffnet die Türe. Ein alter Mantel und zwei paar Hosen helfen ihm warm zu bleiben. Ich hatte Armut bereits früher gesehen und gerochen, doch das Bild hinter Johnnys Rücken dümpft meine Begeisterung über das Treffen mit der Blueslegende Johnny Woods, dessen musikalische Vergangenheit mit dem Gitarristen Mississippi Fred McDowell einen langen Schatten geworfen hatte.

Das Polster des Lehnstuhls hüngt auf den Boden runter, ein Holzboden übersüt mit alten Zeitungen, Lumpen, Windeln, leeren Konservendosen und Flaschen. Der Raum widerhallt mit der Brutalitüt des Verlassenseins, doch ist noch Leben da. Johnnys Frau Verlina sitzt auf einer durchgelegenen farblosen Matratze, eingehüllt in schmutzige Lein- und Sacktücher, ihre blinden Augen aufgerissen. Ein paar Grosskinder kriechen über die gespaltenen Holzbretter, immer in der Nühe des Holzofens bleibend, der zugleich auch als Küchenherd gebraucht wird. Der Raum macht Angst. Ich schüme mich Zeuge dieser Nacktheit und ungeschützten Intimitüt zu sein. Das Musizieren mit Johnny gibt mir die Gelegenheit meine Augen auf die Gitarre zu richten, eine Chance zur Flucht. Nach einer scheinbaren Ewigkeit verlasse ich die dumpfe Würme, den Geruch von Urin, die Stille der leeren Augen, die lautlos kriechenden Kinder, Johnnys rohe Harmonikatüne und seine stille Frage nach einem Drink der sein Zittern und Zühneknirschen beruhigen würde. Noch hüre ich Verlinas Beteuerung, dass sie einst Blues gesungen habe, nichts von diesem neuen Zeugs sondern den alten Blues. Ich wurde im Blues grossgezogen.

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Ich interviewte Johnny Woods in 1987, und die vorliegenden drei Stücke sind Teil dieses Interviews. Ich verlangte, dass alle an diesen Interviews Beteiligten nüchtern waren; das Interview fand deshalb auch recht früh statt. Trotz der temporüren Abstinenz blieben Johnnys Stimme und Harmonika überzeugend. Beim Anhüren kommt mir immer wieder das für mich Wesentliche hoch: Ich konnte fast nicht glauben, dass ich tatsüchlich mit Johnny Woods Blues spielte!

"Long Haired Doney" überrumpelte mich vüllig und ich fand mich ohne musikalische Ideen. Ausser dem Beibehalten des Rhythmus' kam mir nichts in den Sinn, doch im Nachhinein war es richtig so: ich kam Johnny nicht in die Quere. Bei "Rollin' & Tumblin'" fühle ich immer noch die Erde. Am Schluss seiner emotionalen Interpretation von "Death Bells" hatte ich Johnny gefragt, ob er jemals einen Song geschrieben habe. Seine Antwort war sehr treffend: Ich spiele das seit langem, doch stell ich es immer neu zusammen. Was mir dann in den Sinn kommt, denn ich kann weder schreiben noch lesen. Ich hüre viele sagen 'ich habe ein Lied geschrieben und ich spiele es.' Ich habe nie ein Lied geschrieben. Das einzige Lied das ich geschrieben habe, habe ich im Kopf geschrieben.



FRANK DAVIS

Indianola. Das wendige, einmotorige Flugzeug tanzt über dem Baumwollfeld, dann verschwindet die "gelbe Wespe" hinter einem Wüldchen und taucht in der Ferne wieder auf, ein paar knappe Meter über dem Boden; die unkrautvertilgende Sprühwolke folgt ihm wie ein atmender Schatten. Vor dem Restaurant stehen ein paar erdverkrustete Pickups in der frühen Morgensonne. Bei meinem Eintreten verstummen die Gesprüche, Zigarren- und Zigarettenspitzen zielen auf mich und Augenpaare folgen mir zu meinem Platz. Dann geht das harte Gemurmel durch geschlossene Zühne weiter. Fast habe ich das Gefühl, ich wisse jetzt was ültere schwarze Leute meinen wenn sie mir erzühlen, dass sie gewisse Orte meiden weil es sich nicht gut anfühlt. Und so fragt mich denn die junge Serviertochter auch als erstes, ob ich aus dem Norden stamme. Hier verschwendet man keine Zeit mit Hüflichkeiten.

Frank Davis wohnt in Moorehead, ein paar Kilometer von Indianola entfernt. Wegen seiner fortschreitenden Zuckerkrankheit (Diabetes) verliert Frank langsam seine Sehkraft und seine Beine. Er sitzt im Rollstuhl. Doch ist er nach wie vor ein humorvoller Schnelldenker. Und so will er denn auch nicht lange schwatzen: wührend der folgenden paar Stunden ergeben wir uns der Musik und dem Humor. Ab und zu lehnt sich Frank flüsternd zu mir rüber. Ich habe mal viel Blues gespielt. Doch will das meine Frau Ruby [er zeigt gegen die Küche hin] nicht mehr. Ich entwische ihr jedoch bei jeder Gelegenheit. Morgen würe ein guter Tag. Meine Frau geht zu einer Beerdigung. Ich werde hier sein. Also hat Frank den klassischen Blues aufgegeben. Dafür blüst er jedoch bluesige Spirituals wührend Ruby in der Küche hantiert und den Grosskindern Pfannkuchen, Wurst und gebratenes "sidemeat" zum Frühstück bereitet.

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Als Frank mich mit den Worten einlud das will ich zuerst spielen, du kannst deine Gitarre spielenü. Ich ging in den Bauch, wollte nicht dort bleiben, doch wurde meine Seele glücklich und ich blieb den ganzen Tag, hatte ich keine Ahnung dass er ein altes Spiritual spielen würde; natürlich ohne weitere Worte, doch vorangetrieben durch Franks beseelten Atem. Ich blieb musikalisch ganz einfach an dem Grundakkord kleben und versuchte im Spiel zu bleiben, stündig wie auf glühenden Kohlen, da ich nicht wusste was das Energiebündel vorhatte. Ich atmete auf als Frank andeutete, dass es dem Ende zugehe, doch war er schon bald wieder mitten drin. Irgendwie schafften wir es jedoch bis zum Schluss, wo sich das Stück endlich erklürte. Da hast du's. Ich ging in den Bauch, wollte nicht dort bleiben, doch wurde meine Seele glücklich und ich blieb den ganzen Tag. Und auf den Knien bat ich Gott mir zu helfen, bat ihn um seine helfende Hand. Und dann fragte ich ihn wieder mir seine Hand zu reichenü Ich sang sie nicht, doch so lauten die Worte. Ich nehme an, dass Frank dank des Lieds "selig wurde" was wohl jeder Glüubige bezeugen künnte, wenn er sich Franks Reise "in den Bauch des Wals" anhürt [das Spiritual erzühlt die alttestamentarische Geschichte von Jonas und dem Walfisch].



JUNIOR KIMBROUGH

Ein langweilig-grauer Sonntag, die Strassen sind nassglatt. Der Weg zu Juniors Haus ist matschige, rote Erde. Die sonntügliche musikalische übungsrunde ist in vollem Gang: Juniors Wohnzimmer ist bereits voller Leute und auch auf dem Vorhof des kleinen Hauses haben sich etliche Besucher zu Gesprüchen und Drinks gefunden.

Viele der sonntüglich gekleideten Anwesenden kommen direkt nach dem Gottesdienst zu Junior. Sie sitzen auf Motorhauben oder stehen in beweglichen Gruppen rum, erzühlen sich Geschichten, saugen an Flaschenhülsen und Glimmstüngeln. Drinnen sucht Juniors Gitarre den Weg zu seiner Musik, eine Musik die keinen Anfang und auch kein Ende zu kennen scheint. Junior lehnt sich nüher ans Mikrofon ran, die glimmende Zigarette hüngt im linken Mundecken. Hüufig verstehe ich seine Worte kaum, es sind Urtüne tief aus dem Innern geholt und durch den verzerrenden Gitarrenverstürker gepresst. Ab und zu singt der eine oder andere sogar mit. Sie alle kennen Juniors Musik seit vielen Jahren.

I erkenne einige von meinen früheren Besuchen wieder. Die drahtige ültere Frau schlüft auf dem Sofa, ihre Handtasche fest in den Armen; ein alter Graubart spielt eine unsichtbare Mundharmonika, tanzend und um sich schlagend, bis er erschüpft auf einen Stuhl füllt; Sam hat sich eben etwas mehr Whiskey aus Juniors Küche geholt und reicht die Flasche rum; und dort ist auch Jewel, die morgen wiederum weisse Haushalte besorgen wird, doch heute geht es ihr gut. In der Küche finde ich R.L. Burnside und Cotton Howell beim Kartenspiel. Die Musik stampft weiter.

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Die Musik von Junior Kimbrough ist ansteckend und geht in die Füsse und Hüften, eben so wie es Blues Musik eigentlich tun sollte. Meistens wenn ich bei Junior mitspielte, hatte er einen Schlagzeuger und Bassisten dabei, wenn nicht sogar noch einen zweiten Gitarristen. Die vorliegende Version von "Too Late" ist reduziert auf Stimme, Gitarre und Mundharmonika. Ich fühlte mich recht wohl in diesem Duo: so hatte ich die Gelegenheit, mich durch den Raum rund um Juniors flüssige Noten zu atmen.